Google Wave als Raum und die Macht der Metapher in Zeiten der Restauration

Dieser Artikel ist, mit minimalen Änderungen, identisch mit meiner Präsentation zum 2. Düsseldorfer WaveWednesday am 12. August 2009.

Eines der erfolgreichsten deutschen Gegenwarts-Meme ist die Frage, ob das Internet ein „rechtsfreier Raum“ sein darf. Warum ist dieses Mem so überaus erfolgreich? Drei Gründe stechen, meine ich, hervor: Zum einen ist dieses Mem randvoll mit jener Form gesamtgesellschaftlich konstruierter Ideologie, die so transparent ist, so unsichtbar, daß sie gar nicht als Ideologie wahrgenommen wird, sondern als selbstverständlicher Bestandteil von Natur und Welt erscheint. Darf es keine „rechtsfreien Räume“ geben? Ist „rechtsfrei vs. rechtserfüllt“ in allen Situationen und Medien einforderbar dasselbe? Gibt es keine akzeptablen Zwischenstufen? Oder leben wir nicht sogar ständig mit genau solchen Zwischenstufen? Darüber müßte zum Beispiel einmal nachgedacht werden. Wird es aber nicht. Das zweite Element, das dieses Mem so erfolgreich macht, ist die rhetorische Macht, die es im Sinne einer metonymischen Manipulation entfaltet. Hier steht ein Aspekt (Kinderpornographie) für ein Medium (das Internet), und jede Frage, die dieses Medium aufwirft (Redefreiheit, informationelle Selbstbestimmung), erscheint durch die Macht der Metapher, der Metonymie, plötzlich auf erpresserische Weise unzulässig („die Kinder, die Kinder!“). Das dritte Element, und da sind wir ganz Mensch und ganz Kaninchen, ist ein billiger Taschenspielertrick: was ist überhaupt dieser „Raum“?

Virtual Space, William Gibsons Cyberspace und viele weitere Metaphern für computergenerierte Wirklichkeiten bedienen die Tendenz unserer Gehirne, Bewegung im Raum als bevorzugtes Klärungsmittel für abstrakte Phänomene einzusetzen. „Klärungsmittel“ ist dabei leider nur zu oft auch eine Art „Reinigungsmittel“, das die häßlichen Flecken von Komplexität und Anderssein abschrubbelt und wegpoliert. In meinem gestrigen Werbeblogger-Eintrag zum Netz-Artikel des Spiegels schrieb ich dieses Internet-wie-der-Spiegel-es-versteht zum Buchdruck um, und dieses Umschreiben kommt auch hier als Ausgangspunkt gelegen. Macht es Sinn, zum Beispiel die folgenden Fragen zu stellen:

Darf der Buchdruck ein rechtsfreier Raum sein?
Darf das Buch ein rechtsfreier Raum sein?
Darf das Radio ein rechtsfreier Raum sein?
Dürfen Mixtapes ein rechtsfreier Raum sein?
Darf die Google Wave ein rechtsfreier Raum sein?

Das Aufwerfen der Frage, ob das Internet ein „rechtsfreier Raum“ sein kann oder darf, ist — um Franz Joseph Strauß auf die Frage eines Reporters zur Wahlniederlage zu zitieren — „ebenso unsinnig wie bedeutungslos“. Aber so unsinnig und bedeutungslos die Frage auch ist: sie agiert eben als hochvirulentes Mem, das auf politischer Ebene an der Schnittstelle von Populismus und Propaganda erzeugt wird und an der Schnittstelle von Ignoranz und Idiotie repliziert wird. Und zwar hindurch durch alle Schichten, einschließlich jener sogenannten “Vierten Macht”, deren Vertreterin Kerstin Kullmann vom Spiegel, im ZDF-Morgenmagazin befragt zum unsäglichen Netz-Artikel, das lebende Exempel dafür liefert, warum wir uns — selbst im Zeitalter SchäubleZensursula, einer Art intellektuellem Neo-Pleistozän — keine plebiszitäre Demokratie wünschen möchten. In dem Moment, in dem wir damit beginnen, ein Medium als „Raum“ zu begreifen, schaffen wir „Wahrheiten“ im Sinne von Nietzsches Definition von Wahrheit als „Armee von Metaphern“, deren Schlagkraft darin besteht, uns vergessen zu lassen, daß diese Wahrheiten Metaphern sind. Das Medium als „Raum“ generiert Bilder in unseren Köpfen von nächtlichen Straßen und von Totschlägern und Sexualverbrechern und von Überwachungskameras und Polizisten, die uns vor den Totschlägern und Sexualverbrechern schützen. Und diese Bilder werden in unseren Köpfen unwiderstehlich etabliert und überschreiben den Diskurs über das Medium als Medium.

„Raum“ will kontrolliert werden.

Ein „Medium“ kontrollieren zu wollen hört sich häßlich an.

Und hier sehe ich eine Gefahr, die mit der Google Wave auf uns zurollen könnte im Zuge der Restauration — ein Mem, das Siggi prominent in meinem Kopf verankert hat — von zentralisierten und zentralisierenden totalitären Kontrollinstanzen und Kontrollstrukturen im zunehmend luftigeren Umfeld perforierter Gewaltenteilung. Dinge, die endlich, nach 60 Jahren anstrengender und lästiger Repression, wieder öffentlich gefordert werden dürfen. Was für eine Erleichterung. Wie therapeutisch.

Die Gefahr? Netzwerk und Kollaboration gehören in unseren Köpfen zusammen, aber sie lassen sich auch als Doppelbewegung begreifen und beschreiben. Netzwerken (im Sinne von Netzwerkeln) ist verteiltes Arbeiten, physische Dezentralisierung, das Verflachen von Hierarchien. Kollaboration, insbesondere Echtzeit-Kollaboration wie in Google Wave, ist nicht-physisches Zusammenführen und in mehrfachem Sinne digitales Zentralisieren. Das allein wäre noch kein Problem, denn damit werden weder zentralisiertes, unverteiltes Arbeiten noch Hierarchien restauriert. Aber Wave schafft eben nicht nur einen „virtuellen Raum“, sondern einen sehr konkreten physikalischen Ort auf einem oder mehreren Netzwerkservern, öffentlich oder privat, und hier kann die für uns so faszinierende Integration all der Services, die unser Leben abbilden — E-Mail, Chat, Blog, Microblogging, Social Media-Profile, Wikis, Homepage-Integration, Telephon einschließlich automatischer Transkription, Voicemail, Videocast, Podcast, Photoalbum, Datenbank, Office-Applikationen und vieles täglich mehr — im Rahmen der erwähnten Restauration zum Single Point of Failure und zur Zukunftsfalle werden. Und das nicht nur auf der reinen Datenachse. Google Wave Playback macht etwas möglich, worüber wir vielleicht nicht genug erschrecken sollten: die absolute entwicklungshistorische Nachvollziehbarkeit jedes Gedankens, jeder Handlung, jedes Artefakts. Erinnert sich jemand an die kürzliche an Panik grenzende Aufregung, als amerikanische Colleges damit begannen, Schülerzeitungsarchive digitalisiert ins Netz zu stellen? Welcome… to the real world.

Und da helfen auch die allersicherersten Sicherheits-Features nichts, denn jede Form von Sicherheit kann in der nächsten Eskalationsrunde ausgehebelt werden. Im Laufe des Fortschritts von Überwachungstechnologien und Rechenkapazitäten hat die Schwierigkeit, Zugang zu relevanten Daten zu gewinnen, relativ an Bedeutung verloren gegenüber der Schwierigkeit, relevante Daten in einer Welt der hochverteilten Informationen überhaupt erst zu lokalisieren und deren Bezüge zu rekonstruieren.

Totale Datenlokalisation und Datenaggregation sind die Feuchtträume der Restauratoren, die Google Wave gerade durch die faszinierenden integrativen und kollaborativen Potentiale erfolgreich zum Orgasmus führen könnte.

Mit einem klammen Erwachen für uns alle.