Die Dimension des Wandels

Gelegentlich wird es gemunkelt, hinter vorgehaltener Hand geflüstert; verdächtigerweise von Individuen, deren Identität von der Hoffnung auf die Zugehörigkeit zu einer vermuteten, gar konspirativen Elite der Beschleunigung bestimmt wird: Wir erleben zur Zeit den umfassendsten Wandel seit Anbeginn von Kultur und Geschichte, der ursächlich auf uns selbst zurückzuführen ist. Doch es gibt Indizien, die diese These stützen, deren Art und Qualität uns aufhorchen lassen sollte. Denn es ist nicht nur der fachliche Inhalt dieser selben, sondern auch ebendiese Art von der sie sind, die die Bedeutung der Beweisführung ausmachen.

Die Reflexion hier soll  aus Gründen des Pragmatismus und der Bequemlichkeit des Autors auf der Spielwiese von Indizien verbleiben. Im Folgenden also: Gedankenexperimente.

Die Welt ist Schrödingers Katze
Die Maximen, durch die eine Handlung gegenüber einer allgemeiner Gültigkeit in Form eines Gesetzes geprüft werden soll, sind zutiefst eingebettet in eine kulturelle Reflexion biologischer Systeme mit ihren Wechselwirkungen untereinander und gegenüber einer ebenfalls biologisch-physikalisch determinierten Umwelt auf Basis eines weitgehend kausalen Informationsbegriffs.

Die mit Digitalisierung und Virtualisierung all dieser Determinanten einhergehenden Reversibilitäten, Redundanzen und Varianten, stellen auch die extremsten Beispiele in Frage, mit denen bisher der kategorische Imperativ verteidigt wurde. Jeder beliebige Scope und Fokus einer Maxime versagt die Verallgemeinerung gegenüber einer reversiblen Welt. Erst recht, wenn deren Simulakren in Varianten von Gegenwart projiziert werden können, die diese auch jenseits von Idee, Phantasie und Traum ermöglichen.

Auch der Wert eines herrschaftsfreien Diskurses wird in dem Maße unbedeutender, in dem die Teilnahme an der Variante der Gegenwart in dem die ein oder andere Form des Diskurses probiert, oder das ein oder andere Ergebnis des Diskurses gelebt wird, optional und reversibel ist.

Beispiel: Dingwelt und Handel
Schon die Existenz des Internets hat die Begriffs- und Kulturformen der Dingwelt erschüttert. Trivial: Ohne Original, gibt es keine Fälschung. Und ohne Verlust, kein Diebstahl. Letztendlich sind die ein Artefakt repräsentierenden Elektronen wohl kaum von anderen Elektronen unterscheidbar; auch noch so komplexe Muster von solchen sind, wenn sie kopiert sind, nicht zu differenzieren.

Oder doch? Dieses “oder doch” bedarf einer sehr abstrakten Moralkonstruktion, die vor einem hypothetischen “entgangenen Gewinn” ausgehend zu einer Rechtspflicht werden kann; oder, noch abstrakter, die Vermutung über die Absicht einer Gewinnerzielung bei der Produktion (im weitesten Sinne) eines Gutes (auch im weitesten Sinne), einen monetären Wert generiert. Dann kann aber nicht mehr ein objektivierbarer Wert eines gehandelten Artefakts, sondern das Potential eines Mustertransfers zur Preisfindung herangezogen werden. Das wäre der allgemein vermittelbare Stand heute. (?)

Fast Forward: Die Digitalisierung erlaubt nun, Qualität und Quantität der Parameter zur Preisfindung dramatisch zu erhöhen: Feingliedrigste Simulationen würden, einem Schachcomputer gleich, die Folgen aller möglichen Preise vorauszuberechnen. Damit wären die Kosten des Handels selbst nicht nur für die tauschenden Parteien untereinander, sondern auch z.B. die durch den Handel auftretenden Folgen der Veränderung der Investitionsfähigkeit der Handelnden jeweils gegenüber der Gesellschaft zu berücksichtigen.

Wodurch diese einen Anspruch ableiten könnte, in die Kalkulationen einbezogen zu werden: Die Total Cost of Ownership, aller unmittelbar und mittelbar von einem Handel Betroffenen, als Steuerung für einen individuellen Preis.

Dieses Szenario nennen wir hier den “ästhetischen Markt”, das noch interessanter wird, wenn auch jede Form von Marktplatz, inkl. aller Distribution, Kontrolle und Kommunikation selbst, vollständig digital sein wird. Soviel zum Beispiel.

Letzte Differenzierung
In der skizzierten Welt verlieren deontologische und teleologische Ethiken an Bedeutung. Nicht weil sie falsch wären oder keine Moral beschreiben könnten; sondern weil die biologisch-physikalisch determinierte Kultur-Welt, in der sie Haltepunkte fanden, in der ihre Argumente Subjekten, Objekten und Situationen zuzuordnen waren, verschwimmt.

In einer vollständig virtualisierten Welt, könnte das letzte Unterscheidungsmerkmal, die Intention aller handlungsbefähigten Entitäten sein.

Ironischer Weise wäre so eine Tugendethik die einzig verbliebene Differenzierungsmöglichkeit – das letzte Funktionssystem einer Kardashev X Gesellschaft.

Dimensionen des Wandels
Dieser Gedanke ist gestützt durch Erwartungsgrößen, die von den “NBIC”-Technologien ausgehen: Doch allein die durch sie ermöglichten Gedankenexperimente selbst, offenbaren die Tiefe des Wandels für unsere Gesellschaft: Sehr wenig von dem, was wir bisher als Grundfesten unserer Welt verstanden haben, egal ob es kultureller, physikalischer, chemischer oder sonstiger Natur ist, ist ein wirklich sicherer Ort des Rückzugs. Alles könnte anders werden. Vielleicht.

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