Vom kulturellen Wirkungsquantum

Fortschritt
Wie vermisst man den Fortschritt? Und wie tut man dies, ohne sich von ideologischen Hürden ausbremsen zu lassen? Schon häufiger sind wir im Wavetank und in unseren Sessions (1, 2, 3, 4) über diese Aufgabe gestolpert. Die hier geteilte Grundannahme zur Identifizierung des Fortschritts ist wohl, Reproduzierendes und Reproduziertes auszuschließen; und zwar im Phänotypischen wie auch im Genotypischen; auf jeden Fall aber im Performativen.

Das wahre Neue wäre demnach ein bisher nicht dagewesenes und durch bisherige Regeln nicht vollständig erklärbares Artefakt. Unter Artefakten möchte ich hier Gesten, Bräuche, Geschichten, Produkte, Objekte usw. subsumieren.

Soweit, so gut. Doch scheint es, dass bei beliebig kleinen Messabständen Disruption gegen Null strebt. Bei einer atomaren Auflösung gesellschaftlicher Prozesse ist jeder Schritt aus dem vorhergehenden erklärbar; wird Kausalität zu einem unüberwindbaren Naturgesetz.

Löst man das Leben von Miles Davis in kleinsten Einheiten auf, wird nichts nicht Erklärbares zu finden sein. Jede Improvisation wird transparent, jeder Hauch von Genie verblasst.

Veränderung
Konservativismus, Protektionismus und “Restaurationismus” sind jedoch Phänomene, deren Existenz vermuten lässt, dass es zumindest perzeptive Disruption geben muss, zu der es ein Abstandsbedürfnis gibt. Wenngleich sich das subjektive Empfinden von Disruption häufig mit Differenzüberwindungen (gemeinhin “lernen”) erklären lässt, ist doch das Kälte- oder Hitzeempfinden – und das daraus Folgende Zurück- oder Vorschrecken – von Systemen nicht so leicht mit dem Addieren der Subjekte in Verbindung zu bringen.

Treten mehrere gesellschaftliche Teilsysteme in einen gemeinsamen Resonanzbereich, so werden Gesten, Riten, Gewohnheiten und damit Orientierungspunkt verschoben. Auch hier ist die Problemlage ähnlich: In atomarer Auflösung sind nur kausale Einzelschritte identifizierbar; dennoch können sich vermischte Teilsysteme zu einem neuen System verschwören, dessen Eigenschaften von einem unabhängigen Beobachter eben nicht mehr aus den Eigenschaften der Parentalsysteme herzuleiten sind.

Bewegung
Es scheint also vom Betrachtungsabstand abzuhängen, ob ein Beobachter einen Schritt als disruptiv oder nicht disruptiv einordnen würde: Der kleine grüne Marsianer der alle 3.000 Jahre an der Erde vorbeikommt würde allerdings von einer ganzen Treppe voller Stufen berichten, die die Menschen seit seinem letzten Besuch genommen haben.

Unabhängig von der Größe der Systeme (Mensch – Maschine oder Gesellschaft – Technologie), bedarf es also einer Definition der Beobachtungsdistanz, um Urteile zum Maß einer Veränderung verstehen zu können. Diese drückt sich in den Grenzen aus, die ein Betrachter einen betrachteten System einräumt und die einzige Vorgabe, die diese Grenzen erfüllen müssen ist, dass sie eine Differenz ausmachen.

Ein kulturelles Wirkungsquantum könnte also so definiert sein, dass es die kleinste Größe ist, die bei einer gegebenen Beobachtung eine eindeutige, eine signifikante Unterscheidbarkeit zweier Zustände ermöglicht. Folglich ist es ein dynamisches, ein relatives Maß – in dem der Beobachter und sein Wertesystem eine entscheidende Rolle spielt.

Qualifizierung
Doch nach obiger Definition ist Veränderung noch kein Fortschritt. Die Definition einer signifikanten Differenz kann aber helfen, Fortschritt selbst einzuordnen. Ein sehr abstrakter Ansatz könnte sein, die Produktionspotentiale des Vorher und des Nachher zu betrachten und dann einen Fortschritt auszurufen, wenn das Nachher einer Gesellschaft die Möglichkeit bietet, Artefakte (welcher Art auch immer) mit einer höheren Energiedichte, mit einer höheren Ektropie zu schaffen.

Ein Indiz, dass ein disruptiver Schritt vorliegt könnte auch sein, dass ohne “Blutvergießen” kein Zurück mehr möglich ist; wenn das Ergebnis der Vermischung von Systemen ein eigenständig lebensfähiges neues System hervorbringt, wenn das Vorher noch erinnert wird, aber die Dekonstruktion aus dem Jetzt nicht sichtbar ist. Wenn die neuen Regeln im systemischen Sinne transparent werden.

Der Selbsterhaltungstrieb bekommt in so einem Weltbild eine völlig neue Bedeutung. Er kann nicht ego- oder antropozentrisch sein. Eher memetisch, auf jeden Fall aber systemisch. Die Energie zum Schaffen neuer valider Regeln mit höherem ektropischen Potential, das Spielen unendlicher Spiele. Interessanterweise kann das Verständnis, wie auch das Mißverständnis dieses Versuches hier zu restaurativen Bemühungen führen.

… und weiter…
Obwohl in diesem Kontext Fortschritt ohne Ideologie vermessen werden kann, fehlt es an einer allgemeinverständlichen Sprache, an Utopien und Visionen, die dies zum Gemeingut machen. Vielleicht ein Handlungsauftrag die Post-Postmoderne…?