Der Ort, die Zeit

Messen, Kongresse, Konzerte, Parteitage, Events (…) haben implizit einen neuen Anspruch übergestülpt bekommen. Wer Vernetzung und Kommunikationstechnologie ernst nimmt, sollte im Zeitalter des Internets einen guten Grund haben, jemanden vor Ort zu bitten. Der Transfer von Informationen, oder performative Redundanz hatten sicherlich in vergangenen Epochen ihre gesunde Berechtigung, sich in lokalen Veranstaltungen zu manifestieren. 2010 jedoch sind sie schlicht eine Zumutung. Oder?

Sitzen und lauschen können diverse Medien besser transportieren. Ein qualitativer Diskurs ist im Netz ebenfalls etablierbar. Ein Beispiel mögen nur die Facebook-Seiten von “ZDF heute” oder “McKinsey Quarterly” sein. Wozu sammelt man also Leute an einem Ort zu einer Zeit zusammen, wenn digitalisierte Diskurse durch technologische Unterstützung asynchron, kontextuell und ubiquitär verfügbar sein können; wenn die monetären und ökologischen Kosten einer echten Veranstaltung ungleich viel höher sind? Wenn die Qualität, mit der ich einen Sprecher beobachten und seiner Rede folgen, pausieren, verifizieren, falsifizieren, kontrollieren, redigieren, weiter publizieren (…) kann, im Digitalen so viel höher sein kann?

Nach einer gemeinsamen Veranstaltung hat sich Siggi mal zu etwas hinreissen lassen, was ein erster Ansatz sein kann: Der Grund, warum eine räumlich und zeitlich synchrone Veranstaltung Sinn macht, muss in den Möglichkeiten begründet sein, die nur dieser real-existierende Raum bietet: Die Inszenierung der Versammlung: Was wurde erreicht; welcher Vortrieb welcher Profession hat stattgefunden? Zu welchem Gewinn haben die Teilnehmer durch ihre unmittelbare Interaktion beigetragen?

Und: Welche Qualität verdankt dieser Gewinn der lokalen Zusammenkunft?

  1. Eine tatsächlicher intellektueller Zugewinn: Die Präsentation von etwas Neuem
  2. Ein spontaner Diskurs, dessen Inszenierung im Moment einen emergenten Prozess provoziert
  3. Die Schaffung einer Atmosphäre der Gemeinschaft
  4. Eine öffentliche Manifestierung des Seins einer Gruppe

Nun hatte in der vergangenen Woche T-Systems MMS in das schöne Dresden geladen; zum Future Forum. Wofür ich erstmal sehr dankbar bin. Denn ich habe das schöne Dresden kennen gelernt, konnte einige alte Kontakt auffrische und einige erfrischende neue Kontakte machen.

Ein Future-Forum in der deutschen Provinz. Geladene Sprecher: Ray Kurzweil und Tim Berners-Lee. Weder der eine noch der andere haben allerdings in ihren Vorträgen einen neuen Erkenntnisgewinn formuliert oder gar proviziert. Ray Kurzweil hat zweifelsohne perfekt präsentiert, ist jedoch von vielen Konferenz-Teilnehmern mit seinen Visionen nicht ernst genommen worden. Während Tim Berners-Lee gar nicht über die Zukunft, sondern über die letzten 20 Jahre der Webentwicklung gesprochen hat und aus deren Mängeln eine Forderung zur Verbesserung vortrug. Stichwort: Linked Data. Beide Vorträge kann man ziemlich ähnlich bei TED (Ray, Tim) oder youtube oder sonst wo im Netz finden.

Zwischen den Vorträgen gab es “Sessions” in denen kleine Teams kurze Gedanken vortrugen, die teilweise kontrovers diskutiert wurden. Ein generell guter Gedanke, auf jeden Fall sehr viel zukunftiger als die Wiederholung einer Performation von zwei alten Männern.

Drei Fragen deshalb:

  1. Gibt es nicht in Dresden, Darmstadt, Aachen, Düsseldorf, Genf… Forscher, Visionäre, Utopisten, die den Stallgeruch des Forschens an der Zukunft besser in ein solches Forum tragen können? Frischer, ungehobelter, authentischer?
  2. Ist eine inszenierte Wiederholung des Themas “Zukunft” überhaupt angemessen?
  3. Ist die Form eines Vortrages, dem Thema “Zukunft” überhaupt angemessen?

Alle drei Fragen sollen sich durch das vorher geschriebene bereits von selbst beantworten. Wenn also ein Kommunikations-Konzern in seinen kulturellen Gesten noch in der Moderne verhaftet ist, ist es kein Wunder, dass die Gesellschaft sich mancherorts, manchmal zerrissen fühlt. Zerrissen zwischen dem Anspruch Ernst zu machen mit den eigenen Errungenschaften und dem Nachziehen oder Vorschubsen der Gestrigen.

Welches Bild mag wohl Ray Kurzweil nun haben, dass er in die deutsche Provinz gerufen wurde, um für einen der größten Konzerne des Landes als Repräsentant für die Zukunft zu sprechen? Und welches Bild mag nun der aufgeklärter und der unaufgeklärte Gast haben, die einer Inszenierung des 20. Jahrhunderts beiwohnten und die als “Zukunfts-Forum” gelabelt war.

Ein typischer Fall, in dem der Gedanke des WARUM nicht der Gedanke des WOZU prägend war und so leider das Klassenziel nicht erreicht wurde. Ein Klassenziel was Barcamps, Wavewednesdays, Webmontage usw. in den letzten 10 Jahren aufgestellt haben: Die inspirierende Veranstaltung, bereit für einen emergenten Prozess. Wo auch immer der hinführen möge.

Sich ernsthaft auf die Zukunft vorbereiten, bedeutet nicht sie zu inszenieren zu suchen, sondern ihre Manigfaltigkeiten zu akzeptieren, ihre Unsicherheiten spielerisch aufzugreifen und vielfältige Bilder und Eindrucke von etwaigen, konkurrierenden Szenarien zu bekommen.

Im Chat brachte Siggi mich gerade auf einen weiteren, abschließenden Gedanken; was der allgemeine Anspruch einer Inszenierung “an sich” ist. Welche ethischen Prinzipien müssen in einer Zeit an Inszenierungen geheftet werden (dazu sollen hier auch Werbespots, Schulen oder Parlamente zählen), in der es zahlreiche Technologien mit dem Potential gibt, die Welt vollständig aus den Angeln zu heben (Nano, Nano-Assembling, Bio, Synth-Bio, Robotik, Nano-Robotik, Medizin, Computing, …).

Man könnte also radikalisierend formulieren, dass bei einer Veranstaltung, die das Label “Zukunft” trägt, ganz besonders hinterfragt werden darf, ob sie den Teilnehmern in einem exponentiell beschleunigten technologischen, techno-sozialen und soziologischen Umfeld (= 21. Jhd.) durch Repetition einer allgemein verfügbaren Inszenierung nicht tatsächlich die Zukunft verweigert.

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2 thoughts on “Der Ort, die Zeit”

  1. Right. Seh ich natürlich ähnlich. Gerade beim Thema “Zukunft” sollte ein struktureller, inszenatorischer Unterschied zu einem Baumaschinensymposium offensichtlich zu entdecken sein. Wenn das nicht mindestens in den Begrifflichkeiten (Abstraktionen) gelingt, dann liegt einfach nur eine kommunikative Translation vor. Da hilfts dann auch nicht, die Wortstatistik mit “expo-xyz” aufzupeppen. Linearität mit anderen Mitteln.

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