Vom Tun und Lassen

Zunächst die Quellen. Hier der offene Brief an die Verleger von Mario Sixtus auf Carta zum Leistungsschutzrecht oder, wie ich es aus einer ganzen Reihe von Gründen nenne, Reichsleistungsschutzgesetz (den von Mario erwähnten Begriff „Leistungsschutzgeld“ finde ich aber auch sehr schön). Dazu gab es eine Reihe substantieller Kommentare, unter anderem von Tim und von Klaus Kusanowsky. Nachdem ich diesen offenen Brief auf Facebook postete, entwickelte sich dort ein Diskurs, den ich trotz seines etwas holprigen Auslaufens unbedingt zu lesen empfehle (in diesem umzäunten Garten sind leider ein FB-Account und womöglich auch ein Friend Request vonnöten). Reflektierend auf diesen Diskurs wiederum sind Tims gestriger Wavetank-Artikel Diskurskratie vs. Utopiekratie zu erwähnen sowie Siggis Tweet zum Thema, den er wegen der schwierigen Wetterverhältnisse schon vergangenen Juni losschickte, so daß er uns nun rechtzeitig erreicht.

Tims Gedanken zum “Framing” teile ich zwar generell, muß aber zugeben, daß ich bei den verlinkten Ausführungen von Franz Joseph Radermacher nur deswegen nicht in Tiefschlaf verfiel, weil seine Rhetorik eine ähnliche Wirkung auf mich hat wie die von Juan Cole. Gerade dieses “Framing” hat die Postmoderne — Kunst, Literatur, Philosophie — so gründlich analysiert und durchdekliniert, daß ich es erschreckend finde, wie wenige Promille davon selbst in so intellektuelle Köpfe wie den von Radermacher Einlaß fanden. Ich denke, die Postmoderne ist eben noch nicht vorbei — nicht nur, weil mir die diffusen Signale am gesellschaftlichen Horizont nicht reichen, um das Gefühl einer „neuen Epoche“ aufkommen zu lassen, sondern auch, weil die Diskurse der Postmoderne noch gar nicht in unsere Wissensstände sedimentiert sind. Die Motoren unserer gesellschaftlichen Analyseapparate laufen noch auf modernistischem Dampf, während feuerwerkfreudige Ideologien rund um den Globus darum wetteifern, wer unsere Gesellschaften im 21. Jahrhundert mit den archaischsten und atavistischsten Teilen umrüsten darf, von der starren Achse bis zur Ochsenkraft.

Continue reading “Vom Tun und Lassen”

Survival Value

Zu den Fragen, die mich an der Digitalisierung der Gesellschaft interessieren, gehört auch die Vergrößerung oder Verringerung der Überlebenschancen kultureller Artefakte, eine Frage, die zu interessanten Konsequenzen führt. Wir können zum Beispiel davon ausgehen, daß unsere Literatur und unsere Musik und unsere Filme in absehbarer Zeit nicht mehr in einer physischen Form vorhanden sein werden, die wir im Laden kaufen oder ins Regal stellen können. Mein Bücherregal habe ich nur, weil ich etwa zwölf Jahre bräuchte, um meinen Buchbestand zu digitalisieren. Meine CDs sind alle im Keller, wo sie hingehören. Mein eigener produktiver Output ist fast ausschließlich digital.

Historisch gesehen hing das Survival Value kultureller Artefakte von den beiden Parametern Kopieraufwand und Robustheit des Mediums ab. Beschriebene Steintafeln waren sicher robust, aber extrem aufwendig zu kopieren. Schriftrollen zu kopieren war vergleichsweise erheblich unaufwendiger, aber Pergament oder Papyrus ungleich weniger robust. In beiden Bereichen sind wir weit gekommen. Wie sieht es mit diesen beiden Parametern in der digitalisierten Gesellschaft aus?

Continue reading “Survival Value”

The Wave, Buzz, Facebook, and Everything

Jede Lautäußerung wird im sozialen Netz so oft hin- und hergedengelt, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der erste Tweet eine Kette von Backbone-Servern in die Knie zwingt.

Einer der Gründe, warum Wave etwas an Dampf verloren hat, ist sicher in den beiden zusammenlaufenden Über-Trends zu finden, alles miteinander zu vernetzen und alles zu integrieren. E-Mail wird bald ein Bestandteil von Facebook, Twitter-Streams nerven als Hauptbestandteil von Buzz. Jede Lautäußerung wird im sozialen Netz so oft und lange zwischen den Kanälen hin- und hergedengelt, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der erste Tweet oder der erste Facebook-Kommentar in einer sich selbst replizierenden Endlosschleife mündet, die eine Kette von Backbone-Servern in die Knie zwingt.

Das kann es irgendwie nicht sein. Zur Zeit führt die absolute digitale Kopierbarkeit und Replizierbarkeit zunehmen auch dazu, daß uns ein und dieselbe Nachricht auf mehreren Kanälen erreicht. Das ist für die Nachricht — oder, anders gesagt, für die mit der Nachricht transportierten Meme — eine feine Sache. Aber auch für uns?

Dabei soll das Prinzip der „integrierten Inbox“ ja eigentlich genau das Gegenteil bewirken, daß uns nämlich nur noch die Nachricht interessiert, nicht mehr der Weg, auf dem sie zu uns gelangte. Was noch nötig ist, sind wieder Filter, oder vielmehr Bots, die für uns die Echos aussortierten.

Igor: Der bucklige Helfer für wahnsinnige WissenschaftlerInnen in der Welle


Igor—A Google Wave Robot to Manage Your References

Auch wenn das deutsche Universitätssystem sich gerade mit eingeschaltetem Nachbrenner auf der Reise zum Mittelpunkt der Erde befindet, ist die academia immer noch meine geistige Heimat, und auch andere Länder haben schöne Universitäten. Was mich ebenso interessiert wie fasziniert sind nach wie vor die Möglichkeiten, die Google Wave für akademische Kollaboration bzw. kollaborative Forschung eröffnet. Der Proof-of-Concept-Robot “Igor”, den das oben eingebundene Video vorstellt, ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn Igor selbst noch ein bißchen, uh, beschränkt ist.

Was tut Igor? Auf das Stichwort “cite” mit Parametern sucht Igor selbständig die entsprechende Referenz (bislang nur auf PubMed, Connotea und CiteULike) und fügt sie in die Welle ein. Das geht wie folgt vonstatten:

  • helpmeigor@appspot.com in die Wave einladen
  • einer Referenz in Klammer „Referenz (cite STICHWORT und/oder NAME und/oder URL)“ nachstellen
  • Igor ersetzt den Ausdruck in der Klammer durch laufende Numerierung und fügt die Referenz als Fußnote ein
  • URLs als Referenzen können direkt hinter “cite” in die Klammer gesetzt werden

Eine vollständige Listung der Prozeduren gibt es hier.

An Formatierungs- und Referenzierungsmöglichkeiten in der Wave hapert es insgesamt natürlich noch. Aber, wie Jose Quesada auf Academic Productivity schreibt:

Since wave is a lot more open than Google Docs it would not surprise me to see robots coming up to mend the deficiencies that make Docs unfit for papers: no tables, crossrefs, footnotes, equations, etc. Wave gives you versioning for free, which was another pain point of scientific collaboration.

Right.

Wave, hören Sie auf, mich zu verwirren!, oder: Well I’m Just a Simple Blogger, But…

In seinem Blogeintrag “What Works: The Web Way vs. The Wave Way” stellt Anil Dash sich und anderen die Frage, ob Google Wave nicht zu komplex sei, um sich als Mainstream-Applikation durchzusetzen — eine Frage, die bei unseren Vorbereitungen und Brainstormings für Google Wave Hackathon I und II und die ersten beiden WaveWednesdays natürlich auch aufkam, aber interessanterweise völlig anders. Während wir ein Komplexitätsproblem auf der User-Seite sehen und deshalb unseren zweiten Hackathon thematisch mit Arbeitsgruppen zum Interface gespickt haben, findet Dash die Technik hinter Google Wave zu komplex, um sich im Mainstream durchzusetzen. Seiner Ansicht nach habe Google Wave coole Features, sei aber nicht kompatibel mit “The Web Way”.

Continue reading “Wave, hören Sie auf, mich zu verwirren!, oder: Well I’m Just a Simple Blogger, But…”

Google Wave in den Wissenschaften

Vorgestern erschien auf der Website des Magazins Nature ein Artikel von Richard Van Noorden mit dem Titel “The science of Google Wave: How an Online Application Could Change Research Communication.” (Der gleiche Artikel erschien heute ohne Quellenangabe, Autorennennung oder die ursprünglichen Verlinkungen auf SciAm, aber dafür mit einem liebevoll gelegten neuen Link auf die wichtige Kategorie “Internet”).

Nichts Weltbewegendes, zunächst. Biochemiker Cameron Neylon von der University of Southampton, UK — einer der Teilnehmer auf der Science Online London-Konferenz — befand sich im Besitz eines Google Wave Sandbox-Accounts und wurde von Nature dazu interviewt.

Aber Neylon hat auch schon einen Bot geschrieben:

I have made a robot that recognizes chemical names when triggered by the right text input, searches for information about them on ChemSpider [an open-access search for chemical information such as molecular structures], and can turn weights into molarities. Euan Adie, a product manager in Nature’s web publishing group, has developed a ‘references’ robot that can search the PubMed archive of journal papers for related terms, and turn that text into correctly formatted citations.

Darüber hinaus finde ich auch die Implikationen für wissenschaftliche Veröffentlichungen, bei denen Kollaborationen an der Tagesordnung sind (mit Ausnahme vielleicht bei den Geisteswissenschaften), ganz besonders interessant:

Documents created in Google Wave would be much richer, and one could convert them to the format of a published paper and retain all that annotation.

The real-time authoring and date-stamped recording of contributions also makes for an obvious way to create papers that aren’t static, that are updated over time, perhaps in combination with one or many frozen versions of record.

Neylon spricht es nicht direkt aus, aber was hier über der Zukunft des wissenschaftlichen Kollaborationsapparates schwebt — für die einen als dunkle Wolke, für die anderen als Aufreißen der Wolkendecke — ist die absolute, transparente Nachvollziehbarkeit, wer für ein Research Paper was beigetragen hat.

Und wer etwas intimer mit der Akademia verbandelt ist, weiß: Das hat echtes Konfliktpotential.

Wer frißt welchen Fisch in welcher Welle? Google Wave vs. NetDocuments

NetDocuments, am Start seit der frühesten Frühzeit des “Software-as-a-Service”-Konzepts, gab gestern eine Pressemeldung heraus mit dem Titel “NetDocuments Develops Integration With Google Wave”. Interessant ist, was unter “integration with” in diesem Falle zu verstehen ist:

The integrated solution offers NetDocuments customers the following:

  • Ability to create a wave within NetDocuments and display it as a separate object in a folder. It can also be embedded as an IFrame within a NetDocuments Project/Client-Centric Workspace allowing the wave contents to be visible when viewing the entire Workspace.
  • Ability to have NetDocuments folders, documents, and search results displayed within a wave.
  • Drag and drop documents from an internal NetDocuments folder to a wave, and vice-versa.
  • Login to the collaborative space using any methods that Google supports.
  • Leverage the real-time wave collaborative features when it’s released to the market

Wait, what? “Create a wave within NetDocuments”? Das ist etwas, woran ich noch gar nicht gedacht habe, trotz Wavetank, Google Wave Hackathon und WaveWednesday. Unser Fokus liegt eigentlich immer auf der Integration von Tools und Services in die Welle für die Kollaboration und den Export von Anfragen und Ergebnissen aus der Welle. Nicht, daß die Idee, die Welle selbst in eine Applikation zu integrieren oder einzubetten, so exotisch wäre. Sie kam mir nur vorher nicht in den Sinn. Warum?

Hauptsächlich, denke ich, liegt es an der sprachlichen “buzz cloud” im Umfeld von Google Wave. In diesem Set tummeln sich zahllose Vokabeln und Beschreibungseinheiten, die Google Wave in unseren Köpfen zielsicher und reflektionsresistent zur Mutter aller Integrationstools evolvieren lassen. Aber natürlich sollten wir es besser wissen, denn in der virtuellen Welt, in der Parameter wie „groß“ und „klein“ oder „nah“ und „fern“ etc. pp. keinerlei Bedeutung haben, in der “nested virtualization” zur Kunstform wird und die Aristotelischen Gesetze konzeptionell an Kraft verlieren, dräut reziproke, mutuelle Integration immer als Option.

Welche Szenarien, welche Tools und welche Art von Software wären denkbar, in denen die Integrationsmaschine Google Wave als ein integriertes Element produktiver wäre als ein integrierendes?

Twitter vs. Wave

Anläßlich des gestrigen Eintrags auf dem Google Developer Blog, daß die API in Richtung Secure Authentication getweakt wurde und der Twitter-Bot “Tweety” nun OAuth nutzen kann, erinnerte ich mich wieder an die Frage, die ich mir schon stellte, als ich zum ersten Mal von Tweety hörte: wozu.

Ich finde es ausgesprochen nervig, wenn Kommunikationskanäle nur deswegen miteinander vernetzt werden, weil es möglich ist — so wie der Berg, der eben da ist. Wer zum Beispiel hat wovon einen Mehrwert, wenn der Twitter-Account im Minutentakt mit abgeschnittenen tumblr-Einträgen und deren URLs befüllt wird? Weder kann ich mir vorstellen, was die Twitter-Timeline in der Wave zu suchen hat, außer als Machbarkeitsstudie, noch sehe ich, von Einzelfällen abgesehen, dauerhaft geistige Nährwerte darin, Blips auf Twitter zu veröffentlichen.

Oder sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht? Für das Einbinden einer Wave oder Teilen einer Wave in ein Blog, ein Wiki oder ein Content Management System (Drupal-Prototyping ist zum Beispiel in der Pipeline) kann ich mir jede Menge hochcooler Szenarien vorstellen, wo das toll & sinnvoll ist. Aber mir fällt nicht ein einziges tolles & sinnvolles Szenario zu Wave-cum-Twitter ein. Twitter ist kein Kommunikationstool im Sinne eines Kollaborationstools, und selbst wenn anhaltende Dialoge sicherlich auch auf Twitter geführt werden können, ergibt es deutlich weniger Sinn, sie in eine Wave einzubinden, als den Dialog gleich in der Wave zu führen.

Oder fallen euch dauerhaft produktive Szenarien ein, Blips und Tweets zwischen Wave und Twitter hin und herzufüttern? Dann freue ich mich über Hinweise in den Kommentaren.

Google Wave als Raum und die Macht der Metapher in Zeiten der Restauration

Dieser Artikel ist, mit minimalen Änderungen, identisch mit meiner Präsentation zum 2. Düsseldorfer WaveWednesday am 12. August 2009.

Eines der erfolgreichsten deutschen Gegenwarts-Meme ist die Frage, ob das Internet ein „rechtsfreier Raum“ sein darf. Warum ist dieses Mem so überaus erfolgreich? Drei Gründe stechen, meine ich, hervor: Zum einen ist dieses Mem randvoll mit jener Form gesamtgesellschaftlich konstruierter Ideologie, die so transparent ist, so unsichtbar, daß sie gar nicht als Ideologie wahrgenommen wird, sondern als selbstverständlicher Bestandteil von Natur und Welt erscheint. Darf es keine „rechtsfreien Räume“ geben? Ist „rechtsfrei vs. rechtserfüllt“ in allen Situationen und Medien einforderbar dasselbe? Gibt es keine akzeptablen Zwischenstufen? Oder leben wir nicht sogar ständig mit genau solchen Zwischenstufen? Darüber müßte zum Beispiel einmal nachgedacht werden. Wird es aber nicht. Das zweite Element, das dieses Mem so erfolgreich macht, ist die rhetorische Macht, die es im Sinne einer metonymischen Manipulation entfaltet. Hier steht ein Aspekt (Kinderpornographie) für ein Medium (das Internet), und jede Frage, die dieses Medium aufwirft (Redefreiheit, informationelle Selbstbestimmung), erscheint durch die Macht der Metapher, der Metonymie, plötzlich auf erpresserische Weise unzulässig („die Kinder, die Kinder!“). Das dritte Element, und da sind wir ganz Mensch und ganz Kaninchen, ist ein billiger Taschenspielertrick: was ist überhaupt dieser „Raum“?

Continue reading “Google Wave als Raum und die Macht der Metapher in Zeiten der Restauration”